Friedrich Wencker-Wildberg: Abessinien das Pulverfass Afrikas. Vorgeschichte, Ursachen und Auswirkungen des italienisch-abssinischen Konfkiktes

Kennst du das Land
Nein, du kennst es nicht, denn es ist ausgenommen vielleicht nur gewisse Strecken am Oberlauf des Kongo und Amazonas, der Wüsten Arabiens und Innerasiens und der in ewigem Eis erstarrten Gebiete um den Südpol – das bis heute noch am wenigsten bekannte und erforschte Land der ganzen Erde.
Seit der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts sind die weißen Flecke, mit denen ehedem der Kartograph unerforschtes Gebiet zu kennzeichnen pflegte, fast völlig aus unseren Atlanten verschwunden, und wo sie noch geblieben sind, nehmen sie doch nur einen bescheidenen Raum ein, den der Beschauer der Erdkarte kaum beachtet.
Vergebens wird man die weiße Fläche mit verlegenen Fragezeichen und schüchtern punktierten Flußläufen gerade in der Nordostecke Afrikas suchen, in dem Gebiet, das vom britischen Kolonialbesitz in Ostafrika und im Sudan und vom Roten Meer und Indischen Ozean begrenzt wird.
Rein äußerlich besehen ist da alles in Ordnung. Franzosen, Briten und Italienern gehört der Küstensaum, während das Binnenland das Kaiserreich Abessinien ausfüllt. Alle Bodenerhebungen sind fein säuberlich eingetragen, jeder Flußlauf eingezeichnet, und es fehlt auch kein Punkt, der die Lage einer Stadt andeutet. Es ist sogar eine Eisenbahnlinie vorhanden, die die Hauptstadt des Landes mit der Küste verbindet – also alles andere als ein verschlossenes Land, das noch keines Europäers Fuß betreten hätte. Mit nichten! In Addis Abeba, der Hauptstadt des Reiches, befinden sich diplomatische Vertretungen der europäischen Großmächte, worunter auch das Deutsche Reich nicht fehlt – und abessinische Gesandtschaften und Konsulate – u. a. auch ein Kaiserlich äthiopisches Generalkonsulat in Berlin – halten die Fühlung des fernen afrikanischen Reiches mit der abendländischen Kulturwelt aufrecht. Weiße Forschungsreisende haben das Land kreuz und quer durchzogen und ausführlich über alles berichtet, was sie gesehen, beobachtet und entdeckt haben. Stattlich ist die Zahl der europäischen Abenteurer, die der Drang ins Weite in die Urwälder und Berge von Habesch lockte und die es dort zu Amt und Würten, zu Ehren und Vermägen gebracht haben. Und doch: Was wissen Sie von Abessinien?